Alles im Fluss

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Als ich in einem alten Heft über die Uckermark nach neuen Ausflugszielen blättere, stoße ich in einer klitzekleinen Anzeige auf das mir völlig unbekannte Salveytal. Ein denkmalgeschützter Mühlenhof stellt sich vor, in dem man auch übernachten kann. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Ein Anruf und das überraschend freigewordene Zimmer sind die schnellste Initialzündung in unserer Tourengeschichte. Blitzschnell packen wir die Fahrradtaschen und planen eine grobe Route für den nächsten Tag. Die kleine Auszeit kommt genau zum richtigen Moment. Der blühende Holunder verströmt verführerischen Düfte, Mohn- und Kornblumen schmücken die Wegesränder und die Ausflugslust ist nach vielen Entbehrungen unendlich groß. Jetzt freuen wir uns umso mehr auf ein Wochenende an der deutsch-polnischen-Grenze. Kaum vorstellbar, dass die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner weder von Brandenburgs größten Nationalpark gehört, geschweige denn einen Ausflug hierhin unternommen hat. Nach diesem Wochenende müssen wir diesen Menschen sagen: Ihr habt zweifellos etwas verpasst.


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Auf den Spuren des Tabaks

Auf 10.000 Hektar am Unterlauf der Oder über die Landkreise Barnim und Uckermark erstreckt sich das Untere Odertal. Die Flussaue hier gehört zu den letzten, größtenteils noch intakten Flussmündungen in Mitteleuropa. Die Industriestadt Schwedt/Oder ist der ideale Ausgangspunkt für Erkundungstouren zu Fuß oder mit dem Rad und die Anreise mit der Bahn ist überraschend schnell und unkompliziert. Schwedt lassen wir diesmal hinter uns. Zu viel steht auf dem Programm. Im positiven Sinne. Erster Anlaufpunkt auf unserer Tour ist das traditionelle Tabakstädtchen Vierraden, welches heute zu Schwedt gehört und nur ein paar Kilometer entfernt ist. Tabak? In der Uckermark? Bis zur Planung der Tour hatte auch ich noch nie etwas davon mitbekommen. Die Tabakpflanze wurde schon von den Hugenotten, die ab 1685 von Frankreich nach Brandenburg geflüchtet waren, mitgebracht. Durch das warme, sonnenreiche Klima und die feuchten, fruchtbaren Böden konnten sich die Pflanzen schnell im Anbau durchsetzen und brachte die Region zu Wohlstand. Vom goldenen Zeitalter der Uckermark ist auch oft zu lesen. Zu DDR-Zeiten war es für Bauern und Kleingärtner, die Tabak als Nebenerwerb anbauten, sogar besonders lukrativ. Bis zu 18 Mark gab es damals für 1 kg Tabak. Allein in Vierraden wirtschafteten zu jener Zeit 142 private Tabakpflanzer. Inzwischen ist dieser einst florierende Wirtschaftszweig samt Traditionen fast zum Erliegen gekommen. 

Das Tabakmuseum in Vierraden

Den großen Zeiten des Uckermärkischen Tabaks kann man besonders im Tabakmuseum in Vierraden nachspüren. In einer denkmalgeschützten alten Tabakscheune wird über die Geschichte des Tabaks anschaulich informiert. An diesem Tag haben wir das Quäntchen Glück. Das Museum ist zum ersten Mal nach dem Corona-Lockdown wieder geöffnet. Mitarbeiterin Karin Stockfisch begrüßt uns spürbar aufgeregt. Sie begleitet uns persönlich durchs Museum und erzählt dabei nicht nur Geschichten aus ihrer Kindheit, die stark vom Tabakanbau geprägt war. Auf hundert Höfen sei hier früher Tabak angepflanzt worden, erzählt sie uns. Auch, wie sie Blätter geerntet, auf Schnüre gefädelt und zum Trocknen in die Scheunen gehängt hat. Kinder bekamen sogar in der Region im September extra Ferien, um bei der Tabakernte helfen zu können.

Ein besonderes Highlight des Museums ist die wunderschöne Gartenanlage mit Blick auf die uckermärkischen Pferdekoppeln. Auf vielen Schaubeeten, die von historischen Arbeitsgeräten umrahmt sind, sind Tabakpflanzungen zu sehen. Die Pflänzchen sind Anfang Juni noch klein, nur an einigen wenigen sind bereits kleine Blüten zu sehen. Was muss das damals während der Blütezeit im August für ein Anblick der Felder gewesen sein. Heute baut nur noch ein Unternehmen in Vierraden Tabak an und vielleicht der ein oder andere Gärtner aus alter Liebhaberei. Wie unschätzbar wertvoll die Arbeit engagierter Vereinsmitglieder ist, zeigt sich beim jährlich stattfindenden Tabakblütenfest im August. Ein ganz besonderer und fröhlicher Tag, an dem die Vierradener die Leistung vieler Generationen von Tabakbauern wertschätzen und die alten Sitten und Bräuchen pflegen. Dann werden Haus- und Garteneingänge liebevoll geschmückt, ein großer Umzug mit dekorierten Wagen durch die Stadt organisiert, Streuselkuchen gebacken und Tabakschnaps getrunken. Auch eine neue Tabakkönigin wird gewählt. Die besten Chancen hat diejenige, die mit viel Wissen zum Tabakanbau glänzen kann. Während wir unsere Gedanken am Gartentisch ins Gästebuch schreiben, kommt Frau Stockfisch noch mit einem kleinen Holzkästchen vorbei. Darin sind viele selbstverpackte Samenpackungen alter Tabaksorten aufbewahrt, von denen wir uns ein Päckchen aussuchen dürfen. “Da Sie beide unsere ersten Gäste seit der Wiederöffnung sind” lächelt sie. Meine Wahl fällt auf den Waldtabak, der als Zierpflanze im nächsten Jahr meinen Garten bereichern soll. Bevor wir fahren, reicht uns Frau Stockfisch noch ein Glas Unkrautlimonare, die sie selbst aus Apfelsaft und Wildkräutern aus dem Garten zubereitet.

Im Land der Tabakscheunen

Mit den Tabaksamen in der Tasche drehen wir noch eine Runde durch das kleine Städtchen. Wer Lust auf weitere Entdeckungen im Ort hat, findet hier einen Pfad mit zwölf Informationspunkten zu Gebäuden des goldenen Tabak-Zeitalters. Mit dem zuvor Erlernten, fällt es uns jetzt leicht, die Tabakscheunen blitzschnell zu identifizieren. Sie sind aus Holz, Ziegeln oder Feldsteinen gebaut und ihr markantes Merkmal sind die vielen kleinen Luken und Dachöffnungen zum Be- und Entlüften der zu trocknenden Tabakblätter. Als wir den Ort über eine wunderschöne alte Holzbrücke verlassen, passieren wir noch die Ruine einer alten Pommerschen Festung. Erhalten ist noch der 27 Meter hohe Burgturm, der beim Tag des offenen Denkmals für Besucher geöffnet ist. Im nahe gelegenen 250-Seelen-Dorf Gatow wecken nur noch wenige alte Tabakscheunen Erinnerungen an vergangene Tage. Die schöne Lage an der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße und dem vor der Nase liegenden Polder 10 hat viele junge Schwedter angelockt. Das Resultat sind viele moderne Eigenheimsiedlungen. Wir werfen einen letzten Blick auf die große Übersichtskarte an der Feuerwache, bevor wir hinter der Brücke ins quackende, zirpende und summende Auenland verschwinden.

Unterwegs in Polder 10

Im sogenannten Polder 10, einem Teil der Auenlandschaft direkt hinter Gatow, wird derzeit ein wichtiges Ziel des Nationalparks verwirklicht - nämlich die Wiederherstellung natürlicher Flutungsprozesse. Die hier herrschenden Wasserschwankungen können hier im Laufe der Jahreszeiten die Auenlandschaft immer wieder neu formen. Zuvor hatte Mensch noch den Wasserstand durch Pumpen und Wehre reguliert und so Überflutungen zugunsten der Landwirtschaft verhindert. Mittlerweile wird der Polder 10 zur Wildniss, in die wir jetzt näher eintauchen wollen. Alte Plattenwege, die sich gut zu Fuß oder mit dem Rad erkunden lassen, durchziehen die grün-blaue Aue. Es fällt schwer, sich in dieser Naturidylle nicht wie ein Eindringling zu fühlen. Als uns das laute Rattern der Räder über die Steinplatten zuviel wird, halten wir an und erleben leise so manches Naturschauspiel, was uns auf dem Sattel sicher verborgen geblieben wäre. Singende Nachtigallen, ein lautes Konzert eines riesengroßen Moorfrosch-Chores, sich ein aus der Deckung trauenden Rehs, Milane auf Beutezug. Rückblickend möchte ich jedem Naturliebhaber ans Herz legen, sich die Zeit zu nehmen, in diese ganz besondere Landschaft einzutauchen. Eine derartige Dichte an seltenen Tieren und Pflanzen haben wir selten gesehen.

Gegen den Wind nach Gartz

Wir verlassen den Polder 10 und nehmen das nächste Ziel ins Visier: das kleine Städtchen Gartz, sa. 30 km südlich von Stettin gelegen. Da hinter Friedrichsfelde aktuell auf dem Oder-Neiße-Radweg gebaut wird, werden wir und viele andere Reisenden des beliebten Fernradweges landeinwärts über Felder umgeleitet. Zwar ist der asphaltierte Weg herrlich zu fahren, der strenge Gegenwind ist jedoch anstrengend und macht das Treten schwer. Als wir Gartz erreichen sind wir von der Altstadt verzückt. Wir folgen einer Empfehlung von Frau Stockfisch und suchen für eine Verschnaufpause eine kleine Eisdiele an der Westoder. Ich bestelle natürlich einen Krokantbecher mit viel Schoko-und Nusseis. Das Eis hier ist super cremig und schmeckt göttlich. Schlemmend blicken wir auf zwei einsame Betonpfeiler, die sich als Relikte der alten Oderbrücke entpuppen. Wir besuchen die Ruine der alten Pfarrkirche St. Stephan, die alte Stadtmauer und den Jüdischen Friedhof. Während unseres Stadtbummels fällt uns anhand vieler Autokennzeichen und menschlicher Stimmen die hohe polnische Bevölkerungsdichte auf. Wie wir später von Einheimischen erfahren, ist dieser Umstand den seit Jahren explodierenden Grundstückspreise in Polen geschuldet. Mittlerweile kostet dort ein Quadratmeter 75 Euro, während er in Gartz bei 13 Euro und auf den Dörfern sogar nur bei paradiesischen 5 Euro liegt. Die Polen sind hier willkommen. Durch den Zuwuchs kommt wieder mehr Leben in die von Landflucht geplagten Dörfer. Gegen Nachmittag ziehen am Horizont Gewitterwolken auf. Sie tauchen die Kornfelder mit roten Tupfen aus Mohnblumen in dramatisches Licht. In Berlin schüttet es bereits wie aus Eimern, warnt mich meine Mutter per Sprachnachricht. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zum Tagesziel: dem idyllischen Salveytal.

Das Salveytal

Doch zuvor mühen wir uns durch eine nicht enden wollenden Kirschbaumallee. Der Weg lässt sich kaum befahren ist aber besonders hübsch anzusehen. Ein Kompromiss den ich oft auf Radtouren eingehen muss. Das Tal ist malerisch gelegen und der Salveybach einer der letzten naturnahen Fließgewässer in Brandenburg. Im Laufe der Jahrhunderte errichtete man hier fünf Mühlen, von denen heute nur noch eine als Denkmal vollständig erhalten ist und uns für die Nacht beherbergen soll. Irgendwann ist die 700 Jahre alte denkmalgeschützte Mahl- und Sägemühle am Feldrand zu erkennen. Als wir ankommen sind wir sofort verzaubert. Malerin Karin Völker und Rainer Hanke haben jahrelang aus dem historischen Technikdenkmal ein romantisches Feriendomizil mit weitläufigem Hofgarten und Mühlenmuseum erschaffen. Das hier passionierte Künstler am Werk sind, erkennt man sofort. Liebevoll gestaltete Ecken, lauschige Sitzplätze, blühende Staudenbeete. Hier wird mit Liebe zum Detail gearbeitet und gelebt. In unserem ökologisch ausgebauten Zimmer mit Lehmputz und Holzdielen haben wir einen umwerfenden Blick in den großen Garten. Im Haus gibt es eine große Gästeküche und sogar ein kleines Angebot an Nudeln und Soßen, aus dem wir uns ein kleines Abendessen zaubern können. Während das Nudelwasser kocht, erfrischen wir unsere strapazierten Beine mit einem kleinen Kneippbad im angrenzenden Mühlenbach. Schöner kann Ankommen nicht sein.

Vor dem Schlafengehen stöbere ich in der prall gefüllten Gästemappe, in der sich viele Informationen zur Salveymühle finden lassen. Ich lese, dass Zisterziensermöche vor 750 Jahren begannen, die Wasserkraft des kleinen Baches zu nutzen. Im Laufe der Geschichte und vieler Kriegswirren, wurden die Mühlen hier wiederholt zerstört und wieder aufgebaut. Die Salveymühle, die im Besitz der Geesower LPG bis 1992 noch als Schrot- und Sägemühle im Einsatz war, lief zuletzt unter Einsatz von Motorenkraft. Danach kaufte der Solarpionier Gerd Hampel 1996 die Mühle und installierte eine Solaranlage zur Gewinnung sauberer Energie. Außerdem richtete er ein Museum ein, um die Mühle als technisches Denkmal von regionalhistorischer Bedeutung zu erhalten. Die jetzigen Besitzer übernahmen die Mühle 2008 und gründeten einen neuen Verein, der den Bestand der Mühle sichern sollte.

Nach dem liebevoll zubereiteten Frühstück mit selbstgebackenen Brötchen, fragen wir interessiert nach, ob wir noch einen kurzen Blick ins Museum werfen dürfen. In den hölzernen Räumen erhaschen wir einen Blick auf ein fast vergessenen Mühlenleben. Überall wurde das wertvolle Inventar aufgebaut und sorgfältig beschriftet. Alles funktioniert noch tadellos und kann z.B. beim jährlichen Mühlentag in Aktion erlebt werden. Gestärkt und belesen verabschieden wir uns von unseren Gastgebern und steuern unser nächstes Ziel an: das 5 km entfernte Landhaus Damitzow, welches an diesem Tag für Besucher seine Pforten öffnet. Ein kurzer Umweg über die Kirschbaumallee muss natürlich sein. Hier pflücken wir die ersten reifen Kirschen für das geplante Picknick am See.

Das schönste Dorf der Uckermark

Punktlandung! Genau an unserem Wochenende findet der Tag der offenen Gärten statt und als frischgebackene Gartenbesitzer haben wir bereits in Berlin mit Hilfe eines Faltblatts mögliche Besichtigungen im Odertal-Umkreis ausgekundschaftet. Fündig wurden wir in Damitzow. Seit 2003 wird hier dank Günther Graumann und Partnerin im Landgut Damitzow ein alter englischer Garten mit vier Gartenebenen, Sichtachsen und abwechslungsreiche Bepflanzung wiederbelebt. Diesen möchten sie Besuchern heute zeigen. Wir lassen uns von den beiden bei einer Tasse Kaffee und einem Stück selbstgebackenen Kuchen die spannende Geschichte des Ortes erzählen und erfahren, dass die Geschichte der einst beeindruckenden Gutsanlage bis in die Zeit vor dem 30-jährigen Krieg zurückreicht. Zur Anlage mit Schloss, welches heute vor sich hin bröckelt, gehörten der Park, ein Speicher, eine Schmiede sowie ein großes Stallgebäude, das heute das Landgut Damitzow ausmacht. Günther Graumann ist ein Mann der Tat. Seit vielen Jahren engagiert er sich bereits in in Damitzow. Er richtete ein kleines Museum und ein Café ein, empfängt alljährlich zum Tag der offenen Gärten Gäste, hat eine Ferienwohnung ausgebaut und versucht durch seine von ihm erschaffene Kultur-Oase frischen Wind in den kleinen idyllischen Ort zu bringen. Mit dem „Förderkreis Damitzow“ möchte er gemeinsam mit Helfern, Interessenten und Unterstützern das Dorfpotenzial wecken und entwickelt dafür unerschöpflich Ideen und Visionen.

Das hier viele Möglichkeiten schlummern, daran haben wir nicht den geringsten Zweifel. Das kleine Dorf ist eine Schönheit im Dornröschenschlaf. Aber anstatt sich, wie im Märchen, den Weg durch undurchdringliche Rosenhecken erst bahnen zu müssen, streift man hier ohne Hindernisse entlang verwunschener Gärten mit seltenen Obstbäumen, vorbei an alten Remisen, die auf neue Besitzer warten. Auch die Kirche ist mittlerweile stark baufällig und wurde geschlossen. Wir seufzen schwer. Besonders gefällt uns der Schlosssee im Ort. Am Ufer umrunden wir die bewaldete Halbinsel, auf der sich früher der Park der Gutsanlage befand. Wir staunen nicht schlecht über fast zuwuchernden Pfade und die uralten Eichen, von denen einige bereits über mehrere hundert Jahre alt sind. Ein erfrischendes Bad vom privaten Steg des neuen alten Gartens, ist der krönende Abschluss unseres Wochenendes. Herrn Graumann verspreche ich von Herzen Werbung zu machen für das zauberhafte Damitzow. Er freut sich immer über Gäste. Am Nachmittag rollen wir den Hügel hinab zurück nach Tantow, werden aber bereits nach wenigen Metern zu einem weiteren Fotostop vor einer Wiese mit Heuballen verführt. Den Zug haben wir dann aber doch noch erwischt.

ÜBERNACHTUNGSMÖGLICHKEITEN

Ferienhof Salvey Mühle

Nachtrag: Die Salvey Mühle ist mittlerweile eine Eventlocation u.a. für Hochzeiten.

Landhaus Damitzow

,Campingplatz am Oderstrom

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