Das Grüne Herz


“Die Natur ist doch das einzige Buch, das auf allen Blättern großen Gehalt bietet.”

Johann Wolfgang von Goethe


Selten hatte ich einer Auszeit so entgegen gefiebert. Inspiriert durch die Reiseberichte meines Großvaters, die stets großes Reiseglück und Abenteuer versprachen, planten wir ganz spontan eine Woche Auszeit am Rande des Thüringer Waldes. Schon der Ausblick aus dem Zugfenster verzauberte uns auf den ersten Blick. Romantische Dörfer, idyllische Hügellandschaften, dichte eingefärbte Wälder und auf Bergrücken stolz thronende Schlösser und Burgen. Klingt wie eine Beschreibung aus dem Märchenbuch? Willkommen in Thüringen.


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Angereist sind wir aus Berlin. Lediglich 3 Stunden braucht der Zug aus der trubeligen Hauptstadt bis ins beschauliche Bad Blankenburg. Die Kur- und Lavendelstadt brachte es 1840 zu Weltruhm, als der weitsichtige Humanist und Pädagoge Friedrich Fröbel (1782-1852) seine bahnbrechende Idee der Spielpädagogik verwirklichte und den ersten Kindergarten gründete. Direkt nach Ankunft suchen wir das Friedrich-Fröbel-Museum auf, um Fröbels Lebenswerk nachzuspüren. Hier lernen wir zahlreiche Fröbelschen Spielbeschäftigungen kennen, die wir anschließend mit viel Freude im Spielzimmer des Museums selbst ausprobieren.

Kulturell gestärkt, machen wir uns auf den Weg zu unser Unterkunft in Zeigerheim, die auf Höhe der Burg Greifenstein liegt. Man kann es erahnen, dafür sind noch einige Höhenmeter zu überwinden. Während ich mein vollbepacktes Rad mühsam den Berg hinaufschieben muss, beginnt mir zu dämmern, worauf ich mich die kommenden Tage eingelassen habe. Unsere Ferienwohnung mit großem Garten, liegt mitten im alten Weinort Zeigerheim, einst das Zentrum des Weinbaus der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt. Obwohl bereits 1810 der letzte Weinberg gerodet wurde, sind im Dorf noch Spuren der Winzer zu finden. Zeigerheim gefällt uns auf Anhieb. Es gibt ein traditionelles Thüringer Gasthaus, zahlreiche alte Fachwerkhäuser mit Wandbildern, eine Imkerei, eine Saalkirche aus dem 13.Jahrhundert und viele Wiesen und Äcker. Unsere erste Abendwanderung führt auf den 425 m hohen Berg „Liske“, von dem wir eine fantastische Aussicht in die Saale-Ebene und ins angrenzende Schwarzatal haben. Als wir am Aussichtspunkt ein paar Steinpilze finden, kommen wir kurz vom Wege ab und bemerken viel zu spät das nahende Gewitter, welches uns Minuten später klatschnass nach Hause peitscht.

Die Thüringer Bauernhäuser

Unser erster Urlaubstag beginnt mit Stubenarrest. Es schüttet wie aus Eimern. Zum Glück habe wir zu jeder Tages-Tour auch eine Schlecht-Wetter-Variante in petto. Eine davon ist das nahe gelegene Rudolstadt mit einem der ältesten Freilichtmuseen Deutschlands. Von Zeigerheim bis in den romantischen Heinrich-Heine-Park am Saaleufer sind es mit dem Rad nur knapp 20 min. Hier im Park stehen die Thüringer Bauernhäuser. Heimatverbundene Bürger Rudolstadts retteten die alten Fachwerkbauten aus der Umgebung vor dem drohenden Abriss und bauten sie als Ensemble mit originalen Möbeln und Gebrauchsgegenständen wieder auf. Besonders der schöne Bauerngarten und die Einrichtung der alten Dorf-Apotheke sind sehenswert. In der Scheune ist eine kleine Minigastronomie untergebracht und obwohl es drinnen klirrend kalt ist, nehmen wir Platz für einen köstlichen hausgemachten Apfelkuchen und wärmenden Kaffee.

Rudolstadt - Schillers heimliche Geliebte

Der Himmel lockert endlich auf und lässt der Sonne eine Chance. Wir radeln Richtung Altstadt. Hoch über der Stadt thront majestätisch das Wahrzeichen der Stadt, die Heidecksburg. Sie zeugt von der einstigen Macht des Fürstenhauses Schwarzburg-Rudolstadt, das bis 1918 regierte. Wir schließen die Räder an und folgen dem Schloßaufgang VI bis an den Eingang zum Schloss. Hier oben liegt uns die Altstadt zu Füßen. Mit ihren verwinkelten Gassen, Kirchen und Renaissancebürgerhäusern ist sie ein perfektes Kleinod. Im 19. Jahrhundert erlebte Rudolstadt eine kulturelle Blüte, viele Dichter und Denker gingen in der Residenzstadt ein und aus. Auch die bekannten Thüringer Schiller und Goethe waren hier im wahrsten Sinne des Wortes “umtriebig”.

Eine besondere Entdeckung ist die märchenhafte schlossartige Villa des Fabrikanten Friedrich Adolf Richter. Zu seinen bekanntesten Produkten gehörten die Ankersteinbaukästen, die über mehrere Jahrzehnte in alle Welt verkauft wurden. Wir werfen einen neugierigen Blick hinein - wagen uns aber nicht über die imposante Eingangshalle hinaus. Der verwilderte Garten hat von seiner Schönheit wenig eingebüßt - leider wirkt das Gebäude an dieser Stelle der Stadt zwischen Tankstelle und Burger King wie ein Fremdkörper. Die laute Bundesstraße, die vor dem verschnörkelten gußeisernen Tor verläuft, poltert mit aller Kraft gegen dieses schlafende Idyll und erstickt das geheimnisvolle Parkgeflüster im Keim. Ein bisschen erinnert die Villa an Tim Burtons “Edward mit den Scherenhänden” - es fehlen lediglich die gr0ße Büsche und Hecken aus denen man hätte Figuren schnitzen können. Der Lärm und die schlechten Radwege verderben mir die Lust an weiteren Entdeckungen. Wir radeln Richtung Zeigerheim zurück, erkunden lieber ein paar neue wilde Waldpfade und suchen uns noch ein paar Pilze fürs Abendessen.

Das vergessene Tal

Historische Fotos, handgezeichnete Karten, vergessene Wege: dafür brenne ich nicht erst seit gestern. An einem Nachmittag, an dem Opa und ich wieder über seinen alten Reisejournalen und Fotoalben verbrachten, stieß ich auf das mir völlig unbekannte Schwarzatal, das zum Naturpark “Thüringer Wald” gehört. Im Sommer 1953 machten sich meine Großeltern und zwei Freunde mit ihren Rädern samt Zelten von Sachsen nach Thüringen auf, um einige Tage an der Schwarza zu zelten. Seine Fotografien, die er teilweise noch mit einer alten Plattenkamera aufnahm, zeigten eine märchenhafte und wildromantische Natur, wie ich sie selten zuvor gesehen hatte. Es dauerte nicht lang und ich bestellte mir alte Reisemagazine, verschlang einen Artikel nach dem anderen und verlor mich stundenlang in Dokumentationen über die “Sommerfrische” - ein Wort, welches heute fast vergessen ist. So wie auch das Schwarzatal.


Auszüge aus der Dokumentation: Sommerfrische im Schwarzatal - Ein Lebensgefühl im Wandel der Zeit von Doerthe Hagenguth

“Das Schwarzatal war einst ein Sehnsuchtsort der Städter im Sommer. Fuhr man in die “Sommerfrische” so meinte man die angenehm kühlen Orte abseits der erhitzten und staubigen Städte. Im Dörfchen Schwarzburg, das zu dieser Zeit gerade einmal 84 Wohnhäuser hatte, begann es. Die Fürsten waren die ersten die als Gäste in das Tal zogen, um auf ihrem Schloss, abseits des höfischen Protokolls, zunehmend Gäste zu empfangen. 1760-1860 begann man daher Kunststraßen und Wanderwege anzulegen und Mooshäuschen zu bauen. 1900 erhielt das Tal mit dem Bau der Eisenbahn schlagartig Zuwachs. Durch den Beginn der bürgerlichen Sommerfrische änderte sich die Architektur, es entstand die sogenannte „Architektur der Sommerfrische“. Verglasten Veranden, Giebel, leichtgebaute Häuser mit Liegewiesen und natürlich Hotels. Das Erscheinungsbild des Ortes Schwarzburg bot einen sehr erfreulichen Anblick und die schönen Anlagen, auf denen Konzerte und Veranstaltungen stattfanden, schufen ein besonderes Klima. Die “Sommerfrischler” wanderten, ritten, besichtigen Sehenswürdigkeiten und es entwickelte sich eine Bad- und Radkultur. Der 2.Weltkrieg jedoch beendete vorerst die “Sommerfrische”. Erst zu DDR Zeiten erlebte das Schwarzatal einen durchorganisierten Massentourismus. Durch subventionierte Urlaubsreisen, entstanden Betriebsferienheime und Pensionen, die Einkünfte für das ganze Jahr sicherten. Ein Ferienplatz im Schwarzatal hatte den gleichen Stellenwert wie einen Platz an der Ostsee. Züge brachten einen nicht enden wollenden Strom an Menschen. Mit dem Ende der DDR war diese Art der “Sommerfrische” vorüber. Die weitreichenden Folgen dieses jähen Abbruchs, bilden die Herausforderungen, denen das Tal heute gegenübersteht.”


Der Zug bringt uns am frühen Morgen von Bad Blankenburg ins kleine Örtchen Rottenbach. Ab hier verkehrt die Schwarzatalbahn stündlich auf einer 25km langen Strecke. Das einst leer stehende Bahnhofsgebäude wurde vor einigen Jahren umwerfend saniert und begrüßt jetzt als “Tor zum Schwarzatal” seine Gäste. Die Bahnstrecke allein ist schon eine Augenweide. Bis zu 300 Meter tief ist hier das Schwarzatal in das Schiefergebirge eingeschnitten. Eine freundliche Dame im Tourismusbüro Bad Blankenburg gab uns zuvor den Tipp, die Tour in Katzhütte, also am Ende im Oberen Schwarzatal zu beginnen. Somit erleben wir eine Strecke mit leichter Neigung anstatt das Tal hinaufzustrampeln. Direkt hinter den Bahngleisen in Katzhütte tauchen wir in eine scheinbar unberührte Wildnis ein, die das Zuhause von Bachforellen, Schwarzstorch und Eisvogel ist. Wir radeln vorbei an schroffen Felsen, riesigen Fichten und versteckten Sägewerken, während neben uns die Schwarza plätschert. Schnell fühlen wir uns wie in einem Märchenwald, in dem außer uns niemand unterwegs zu sein scheint. Die ganze Gegend wirkt wie ausgestorben. Viele Hotels und alte Villen lassen das Lebensgefühl der Sommerfrische noch erahnen. Aber sie sind verwaist und wurden schon vor Jahren aufgegeben. Es stimmt uns traurig, den Zustand vieler einst prachtvollen Häuser zu sehen.

Wir haben uns für einen unbekannte Single Trail entscheiden, der direkt neben den Bahngleisen verläuft. Obwohl der Wald hier wuchern darf wie es ihm passt, ist der Weg überraschend gut zu befahren. An an den Wegesrändern duftet es herrlich. Es ist nicht verwunderlich, dass die Gegend auch als "Thüringer Kräutergarten” bekannt ist und der Handel mit Naturheilmitteln, den Olitäten, eine lange Tradition hat. Blutwurz, Arnika und Fingerhut wurden von sogenannten “Buckelapothekern” in den Wäldern und Wiesen des Schwarzatals gesammelt und zu Heilmitteln in Form von Tees, Tinkturen oder Salben veredelt. Anschließend zogen sie mit ihren Essenzen durch ganz Europa.

“Schatz, wußtest Du eigentlich, dass man hier nach Gold suchen kann?” Immer wieder versorge ich Reinier mit Gelerntem aus meiner aufgesaugten Schwarzatal-Literatur. Dort war zu lesen, dass die Schwarza einer der goldreichsten Flüsse Deutschlands ist. Schon im 15. Jahrhundert begann es hier und über die Jahrhunderte wurden ca. vier Tonnen Gold aus dem Kies des Flusses gewaschen oder bergmännisch abgebaut. Zwar wurde die Goldgewinnung im 18. Jahrhundert eingestellt, aber es lassen sich immer noch zahlreiche Goldwaschplätze besichtigen. Und tatsächlich treffen wir wenige Augenblicke später auf einen Goldwäscher, der mit Gummistiefeln und flachen Waschpfannen konzentriert in der Schwarza steht. Ist die Schwarza also tatsächlich eine rauschende Schatztruhe? Wir sind neugierig und kraxeln die steile Böschung hinab, um ihn persönlich nach seinen Erfolgen zu fragen. Unser Goldwäscher lacht und zeigt uns sein kleines Reagenzglas, in dem er ein paar winzig kleine Goldkörnchen funkeln. Reich hat ihn sein Goldfieber jedoch nicht gemacht. Aber für ihn sei es ein entspannendes Hobby, so wie für andere das Angeln. Beglückt von diesem besonderen “Klondike”-Moment radeln wir weiter. Im Örtchen Obstfelderschmiede könnten wir jetzt auf die Oberweißbacher Bergbahn umsteigen. Doch wir beschließen aufgrund des kurzen Herbsttages, diesen Teil des Schwarzatals ein anderes Mal zu besuchen.


“Auf diesen Höhen sah ich dich…göttliche Natur! Ja, Dich!”

Friedrich Schiller


Wie an einer Perlenkette reihen sich dic Dörfer im Schwarzatal aneinander. Die nächste Perle ist Sitzendorf. Hier gelang es dem Zimmermann Georg Heinrich Macheleid mit einheimischen Rohstoffen das Thüringer Porzellan nachzuerfinden. Auch Sitzendorf war in der Vergangenheit eine Hochburg des Fremdenverkehrs, was die vielen imposanten Villen eindrucksvoll bezeugen. Für eines der vielen leerstehenden Gebäude fand sich bereits eine ganz besondere neue Nutzung. Ein alter Bahnschuppen wurde kurzerhand als Weihnachtsbahnhof wiederbelebt. Heute wird hier handgeblasener Weihnachtsschmuck unter Verwendung von historischen Vorlagen verkauft und man kann die mundgeblasene Kunst “live” in Vorführungen erleben.

Durch einige alte Fotos neugierig gemacht, folgen wir ab Sitzendorf einem 45 minütigen Wanderweg, der zu einem der ältesten Bismarcktürme Deutschlands führt. Geschützt in der hölzernen Aufstockung des Turms schauen wir vom Sommerberg hinab auf die Welt, die wir heute entdeckt haben. Die Schönheit der Natur lässt erahnen, warum das Tal einst so viele Menschen anzog.

Vom höchsten Punkt des Sommerbergs ist bereits Schloss Schwarzburg, das verfallene Wahrzeichen der Stadt Schwarzburg, zu erkennen. Die Schwarza schlängelt sich hier in engen Serpentinen um den Schlossberg herum. Bis 1940 gehörte die Schwarzburg zu den imposantesten Schlossanlagen Deutschlands. Ihre nahezu tausendjährige Geschichte fand ein abruptes Ende, als innerhalb von zwei Jahren die Nationalsozialisten das Gebäude zum Reichsgästehaus umbauen wollten und 1942 eine Ruine hinterließen. Leider hat sich der Zustand bis heute kaum geändert. Wäre es Sommer, würden wir vermutlich barfuß bequem die Schwarza überqueren können. Schwarzburg ist hoffnungslos romantisch. Man entdeckt hier altes Fachwerk, eine hübsche Talkirche und sogar ein mit Quellwasser gespeistes Waldbad unterhalb des Schlosses. Alles wirkt diesem geschichtsträchtigen Ort ein wenig der Zeit entrückt. Friedrich Ebert unterzeichnete hier am 11. August 1919 die Weimarer Verfassung, die erste Demokratie Deutschlands. Zudem war der Ort Stammsitz der über Jahrhunderte die Region prägenden Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt, die wie bereits erwähnt, den Grundstein für den Tourismus in der Region legten. Vom Glanz vergangener Tage ist auch hier nur noch wenig zu sehen.

Doch es gibt Hoffnung. Heute engagiert sich die “Zukunftswerktstatt Schwarzatal” für eine Renaissance des Schwarzatals. Der Verein ist Mitinitiator des „Tags der Sommerfrische“ im August, an dem die größtenteils leer stehenden Sommerfrische-Häuser wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Mit Diskussionen, Führungen und organisierten Wanderungen wird nach Wegen gesucht, die Gegend wieder attraktiv zu machen. Der Dialog ist heute wichtiger denn je, denn die Menschen in dieser Region fühlen sich abgehängt. Bei der Europawahl im Mai belegte die AfD hier mit 27,6 Prozent den ersten Platz. Sollte man Thüringen aufgrund dieser Entwicklung meiden? Das kann sicher keine Lösung sein. Einen neuen Massentourismus braucht man hier sicher nicht, wohl aber Aufmerksamkeit und etwas das dem Tal und den Menschen neue Hoffnung gibt. Das Potential ist da.

Auf Opas Pfaden

Wir ziehen weiter. Es fällt mir schwer das Schwarzatal zu verlassen, vieles bleibt unentdeckt. Bis zu unserem nächsten Ziel sind es nur einige Kilometer. Aufgrund des schlechten Wetters, wollen wir ab Saalfeld einen Teil der Strecke mit der Bahn zurückzulegen. Das hübsche Saalfeld an der Saale zählt mit seiner über 1.100-jährigen Geschichte zu den ältesten Städten Thüringens. In Opas Reisetagebuch fand ich besonders hübsche Ecken dieser ehemaligen Bergbau-, Kloster- und Residenzstadt. Wir versuchen seine Motive, die er 1953 fotografierte, zu suchen und sie im Zustand 2019 erneut festzuhalten. Mit dem heutigen Verkehr ein nicht ganz leichtes Vorhaben. Wie muss es sich für die vier Freunde damals wohl angefühlt haben hier auf den breiten Straßen ohne jeden Verkehr radeln zu können. Die Vorstellung daran ist fast unmöglich. Wir müssen minutenlang warten bis sich ein autofreies Schlupfloch für einen Schnappschuss bietet. Selten habe ich eine so eine befahrene und laute Innenstadt erlebt. Dabei ist hier alles wirklich zauberhaft und mit viel Liebe saniert worden. Bis zur Abfahrt nach Leutenberg bleibt noch etwas Zeit. Zum ersten Mal auf der Reise bestimmt Reinier wo es langgeht. Er freut sich riesig über die Möglichkeit, tibetischen Mönchen im Sitzungssaal des Rathauses bei einer einzigartigen Sandmandala-Session über die Schulter schauen zu können.

Im Land des “Blauen Goldes”

Für den zweiten Teil unserer Reise haben wir uns das Thüringer Schiefergebirge und den kleinen Ort Kleingeschwenda ausgesucht. Der Weg von Leutenberg führt kilometerlang über eine Backsteinstraße bergauf und war mit all dem Gepäck wirklich kein Spaß. Aber unsere wirklich schnuckelige Ferienwohnung inmitten des Nichts und unsere herzlichen Gastgeber lassen die Strapazen schnell vergessen. Der Schiefer, der die Region berühmt machte, ist hier überall zu finden - vor allem in Form von Schindeln auf den Dächern der Häuser. Lange war dessen Abbau der größte Wirtschaftsmotor der Region, bis vor 20 Jahren die jahrhundertealte Tradition ihr Ende fand. Im ehemaligen Tagebau Lehesten oder auf dem 80 km langen Schieferpfad kann man in diese Geschichte eintauchen. Leider reicht unsere Zeit in Kleingeschwenda für weitere Expeditionen nicht aus. Auch das Wetter bleibt herbstlaunig. Der viele Regen macht kurzerhand aus den geplanten Tagestouren kürzere Ausflüge, hin und wieder auch zu Fuß.

Direkt hinter unserem Dorf gelangt man über Steinsdorf auf den Hohenwarte–Stausee–Wanderweg. Mit 75 km Gesamtlänge führt er durch wunderschöne Landschaften, verträumte Dörfer und natürlich am “Thüringer Meer” entlang. Trotz Nieselregen wollen wir es bis zum Gasthaus Sommerfrische Lothramühle schaffen. Bisher hatten wir kaum Gelegenheit richtig nach Pilzen zu suchen und sind neugierig, wie es hier oben um den Pilznachwuchs bestellt ist. Wir packen etwas Proviant, eine Thermoskanne Tee und das Pilzmesser ein und ziehen Richtung Nebel. Die Regenwolken hängen an diesem Tag besonders tief, geben aber zumindest für Fotos etwas her. Die Luft hier oben ist herrlich frisch. Die Mischung unterschiedlichster Vegetation und die Elemente Wald, Wasser und Fels sind einfach reizend und versprechen eine wunderschöne Wanderung.

Im Wald treffen wir auf den seltenen Feuersalamander, der vom Regen angelockt, aus seiner Deckung kriecht. Keck hat er sich einen bemoosten Baumstumpf als Ausguck ausgesucht. Heute herrschen beste Vorraussetzungen für die niedlichen Amphibien einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Wir beobachten unseren neuen kleinen Freund noch eine Weile, bevor uns die Lust am Pilze sammeln wieder einholt. Der Wanderweg ist malerisch. Immer wieder teilt sich der Wald und gibt einen Blick auf die unverwechselbaren Landzungen der Saale frei. Beim Gedanken an unser gefundenes Abendessen, kommt uns der Heimweg viel zu lang vor. Es gibt vegetarisches Pilzgulasch mit Thüringer Klößen. Die hatten wir beim gestrigen Einkauf glücklicherweise noch in letzter Sekunde in den Einkaufswagen gepackt.

Rundkurs zur Ziemestalbrücke

An diesem Tag lag Abenteuerduft in der Luft. Über Komoot hatte ich bereits in Berlin ein ganz besondere Brücke entdeckt, die sofort auf unsere Thüringer Bucket-List musste. Die Tour bot allerdings noch mehr Interessantes, wie z.B. das Bodendenkmal Wysburg nahe Weisbach. Die ehemalige Raubritterburg wurde nach ihrer Zerstörung im 13.Jahrhundert vom Wald zurückerobert und war für Jahrhunderte vergessen. Als man 1984, nach einem sensationellen Fund von Steinschleuder-Kugeln, mit den Ausgrabungen begann, waren lediglich kleine Mauerreste und ein Teil des Bergfrieds sichtbar. Heute ist ein Großteil der Anlage gesichert und kann erkundet werden. Wir parken unsere Räder am höchsten Punkt der Burg. Von der einstigen Wirkung ist heute nur noch wenig zu erahnen, aber die sehr informativen Tafeln halten uns länger hier.

Nur 10 Gehminuten von der Burganlage entfernt, versteckt sich eines der schönstes Bauwerke Thüringens: die Ziemestalbrücke. Das 115 Meter lange und 32 Meter hohe Viadukt wurde zwischen 1893 und 1895 aus genietetem Stahl nach dem Vorbild des Pariser Eiffelturms erbaut. 10 Pfeiler tragen die einzigartige, denkmalgeschützte Konstruktion, die das Tal in einer langegezogenen Kurve bergauf überbrückt. Die Eisenbahnbrücke ist nur zu Fuss erreichbar und der Aufstieg auch ziemlich abenteuerlich - allerdings im positiven Sinne. Ein bisschen erinnert alles hier an “Stand by me” , einem meiner absoluten Lieblingsfilme meiner Kindheit. Überraschend anbrausende Züge, wie in der berühmten Szene des Filmklassikers, muss hier aber niemand fürchten. Seit über 20 Jahren ist die Bahnstrecke nicht mehr in Betrieb und die Brücke kann zu Fuss überquert werden. Für mich hält die Begehung auch ohne Zug eine Menge Nervenkitzel parat. Am Geländer in Randnähe, welches ich mit fast lähmender Höhenangst umklammere, stehe ich mit Pudding in den Knien um ein gutes Foto hinzubekommen. Fast zwei Stunden hält uns dieses Bauwerk in seinem Bann. Die Natur hier ist nahezu unberührt und es macht uns Spaß die Brücke aus verschiedenen Perspektiven zu entdecken. Reinier, der nichts von meinem Nervenkitzel nachempfinden kann, kramt seine Stirnlampe aus dem Rucksack und beginnt die nahe der Brücke gelegenen Tunnel zu erkunden. Ich muss lachen, wenn das hier kein Mirkoabenteuer ist, was dann? Zurück gehts steil bergauf zurück zur Wysburg, wo noch ein bisschen Tee auf uns wartet.

Das endlose Thüringer Meer

Nach fast einer Woche grauem Himmel und Regen hat sich für unseren vorletzten Urlaubstag Sonne angekündigt. Ein Ausflug zur “Teufelskanzel” soll der krönende Abschluss unserer Reise werden. Die Gegend rund um die Saale ist noch ein “Geheimtipp” - wir machen uns auf alle Überraschungen gefasst, auch weil auf unserer Tour eine Autofähre über die gestaute Saale miteingeplant ist. Mit über 70km Staulänge ist das “Thüringer Meer” das größte zusammenhängende Stauseegebiet Europas und wir sind gespannt, ob wir den Aussichtspunkt zur rechten Wetterzeit abpassen können. Der Morgen begrüßt uns mit einer kalten, dichten Nebelsuppe. Bereits nach 10 km frieren mir die Füße ein. Ich versuche mich mit den Schönheiten der Wegstrecke abzulenken. Schaue verträumt in die Bauerngärten, die mich rührend an den Garten meiner Uroma und an den Geschmack meiner allererste Möhre erinnern. Die knapp 13km zur Autofähre fühlen sich in der Kälte an wie eine Ewigkeit. Unten angekommen sind wir alleine an der Ablegestelle, niemand ist weit und breit zu sehen. Doch die Fähre kommt. Als einzige Auto- und Radfähre auf einem deutschen Stausee verbindet sie die Anlegestellen Altenroth und Linkenmühle. Die Überfahrt dauert nur 5 Minuten. Bis nach Paska, unserem Aussichtsziel, müssen wir einen 3km langen Anstieg überwinden. Es deprimiert mich, dass es Reinier mit seinem Singlespeed scheinbar mühlelos schafft mich dabei auch noch anzuschieben. Oberhalb der Teufelskanzel liegt uns am Aussichtspunkt “Fernsicht” die Saale, die sich überall wie ein blaues Band durch eine fjordähnliche Landschaft schlängelt, zu Füßen. Links am Ufer spiegelt sich ein verlassenes Kraftwerk im Wasser und bestätigt wie ein stummer Zeuge die Tatsache, dass das Bedürfnis des Menschen nach Energiegewinnung auch im Einklang mit der Natur stehen kann. Fast bekommen wir Lust zurück zum Campingplatz Linkemühle zu fahren, um die 6 km bis nach Ziegenrück paddelnd zurückzulegen. Zu verführerisch schimmert das Wasser unter uns. Als sich der Nebel endlich lichtet und die Sonne ihre ersten warmen Strahlen auf die Schleife wirft, wird es Zeit für für den ersten Einsatz meines Kamerastativs. Volltreffer! Kurz darauf entsteht meine Lieblingsaufnahme aus dem Selbstauslöser.

Von der Teufelskanzel nach Ziegenrück

Auf dem Wanderweg zur etwas tiefer gelegenen Teufelskanzel ist wieder mal Schwindelfreiheit gefragt. Aber das Wetter ist jetzt so zauberhaft, dass wir gerne noch länge an der Saaleschleife verweilen wollen. Man erzählt sich, dass die Teufelskanzel einst eine heidnische Opferstätte gewesen sei, an der Bösewichte den Felsen hinuntergestürzt wurden. In nebligen Nächten stieg dann der Teufel mit glühendem Schweif und glutroten Augen vom Lasterberg hinauf und hielt seine Predigt. Und wehe dem, der in seinen Bann geriet… Es verwundert mich nicht, dass sich solche Sagen in dieser Gegend herausbildeten und ich schreibe diesen Umstand der märchenhaften Umgebung zu. Die Wanderwege nach Ziegenrück, der sogenannten “Perle des oberen Saaletals”, sind für die Räder weniger geeignet, was uns aber nicht weiter stört. Fast immer bieten sie einfach die schöneren Aussichten. Einen Beweis dafür bekommen wir bei der ersten hölzernen Aussichtshütte. Die fünfkleinste Stadt Deutschlands, die sich im tiefeingeschnittenen Tal der Saale an den Fluss heranschmiegt, wirkt hier wie in einen Bilderrahmen gesetzt. Wir haben Lust auf Kaffee und Kuchen bekommen und finden einen sonnigen Platz im Garten des Wasserkraftmuseums. Auf der Tageskarte steht frischer Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Wunderbar.

Als wir den Ort erkunden stoßen wir auf den stillgelegten Bahnhof des Ortes. Spontan entschließen wir uns, statt Ziegenrück über die Landstraße zu umfahren, eine Abkürzung entlang der stillgelegten Bahnstrecke quer durch den Berg zu nehmen. Ein aufregender Moment als wir in völliger Dunkelheit unsere Räder durch den 181 Meter langen Tunnel schieben. Nach wenigen Minuten ist das Ende in Sicht und wir befinden uns auf einem wildromantischen Single Trail auf halber Höhe der Hemmkoppe. Hier haben wir die Saale wieder für uns allein. Zwischen Bahnstrecke und Felswand lässt es sich auf den schmalen Wegen nur mit großer Aufmerksamkeit radeln, aber die Aussicht entschädigt jede Anstrengung. An der Mündung des Otterbach verlassen wir die Saale. Reinier nutzt die letzte Gelegenheit für ein erfrischendes Bad. Die Strandstelle zeigt Spuren von Lagerfeuern und Rastplätzen. Ich kann es nachempfinden. Was für ein zauberhaftes Idyll dieser Flecken Erde doch ist. Der Rückweg nach Kleingeschwenda ist kräftezehrend. Es geht fast nur bergauf. Ich spüre, wie meine Beine drohen mir ihren Dienst zu verweigern. Aber ich beiße mich durch. Zuhause warten die letzten Thüringer Klöße und noch ein paar leckere Steinpilze auf uns.

Daheim angekommen, beginn unserer Abschiedsabend allerdings mit einer Ernüchterung. Ich habe mich schlecht vorbereitet und muss feststellen, dass unser letztes Urlaubsziel, der Grenzort Probstzella, im Winterschlaf liegt. Das von mir ausgesuchte Bauhaus-Hotel sowie der ehemalige Grenzbahnhof mit Museum sind geschlossen. Von dort wollten wir eigentlich auch mit der Bahn wieder die Heimreise antreten. Schweren Herzens plane ich alles um und wir beschließen statt über das nächste Gebirge einfach nur bergabwärts Richtung Stausee Hohenwarte zu rollen. In Kaulsdorf haben wir ebenfalls eine gute Anbindung nach Berlin.

Am nächsten Morgen verabschieden wir unsere herzlichen Gastgeber, schenken ihnen den verbliebenen Pilzvorrat und machen uns auf den Weg Richtung Talsperre. Die Strecke ist herrlich, gepaart mit grandiosen Aussichten auf das “Thüringer Meer” und einem angenehmen Fahrgefälle. Am Stausee angekommen, bestaunen wir das technische Wunderwerk, für dessen Bau 250 Menschen umgesiedelt werden mussten. Der Speicherraum von 182 Mio. Kubikmetern Wasser macht die Hohenwarte Talsperre zur drittgrößten in Deutschland.  Zweck des Stausees ist der Hochwasserschutz, die Betriebswasserversorgung und die Elektrizitätserzeugung und -speicherung durch das Pumpspeicherkraftwerk Hohenwarte I, das vom Saaleradweg gut zu sehen ist. Am kleinen Bistro “Stauseeblick” mit reichlich DDR-Charme weht eine Softeisflagge. Wir sitzen alleine im Bistro, die Saison ist längst vorbei. Fahrgastschiffe, Bade- und Campingplätze sind verlassen. Eine herrliche Ruhe umgibt uns. Wir überqueren die Staumauer, werfen noch einen Blick in das große Staubecken und knipsen ein letztes Erinnerungsfoto mit unseren Rädern. Jetzt fühlt es sich nach Abschied an. Und ich bin noch gar nicht bereit dazu. Entlang des Saaleradwegs strampeln wir fröstelnd Richtung Kaulsdorf. Glücklicherweise gibt es hier eine urige Thüringer Wirtschaft und ich denke an meine Mama, die stets zu sagen pflegte: “Iss Kind, wer weiß, wann Du das nächste Mal so etwas Gutes bekommst.” Damit hat sie natürlich Recht. Ich bestelle ein letztes Mal Thüringer Klöße und klappe glücklich die Speisekarte zu.

#wecyclethüringen


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Dani Pensold1 Comment